Diese Thesen laufen, das ist dem automobilen Leser längst klar, darauf hinaus, dass Fremdbestimmung mit künstlerischer Tätigkeit nicht vereinbar ist.
Nicht nur, dass Kategorien und Gesetze theoretischer und praktischer Vernunft auf Kunstwerke angewandt diese als Kunstwerke verfehlen, weil sie die ästhetische Distanz, die das spezifisch ästhetische Echo erfordert, unter einer funktionsanalytischen oder zweckmäßigen Betrachtungsweise aufgeben, sondern von außen herangetragene Maßstäbe haben auch, was die konkreten künstlerischen Handlungsvollzüge selbst betrifft, schlechte Karten. Kunstwerke sind nicht maßstabsgerecht, sie treten als autonome Postulate in Erscheinung – Gegeben sei: … Avantgarde: »Autonomie der Kunst ist eine Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Sie erlaubt, die geschichtlich entstandene Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen Bezügen zu beschreiben, die Tatsache also, dass sich eine nicht zweckrational gebundene Sinnlichkeit bei den Angehörigen der Klassen hat herausbilden können, die zumindest zeitweise vom Druck unmittelbarer Daseinsbewältigung freigesetzt sind. Darin liegt das Wahrheitsmoment der Rede vom autonomen Kunstwerk. Was diese Kategorie jedoch nicht zu erfassen vermag, ist die Tatsache, dass es sich bei dieser Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen Bezügen um einen historischen Prozeß handelt, d. h. daß er gesellschaftlich bedingt ist. […] Autonomie ist mithin eine im strengen Wortsinne ideologische Kategorie, die ein Moment der Wahrheit (Herausgehobenheit der Kunst aus der Lebenspraxis) und ein Moment der Unwahrheit (Hypostasierung dieses historisch entstandenen Tatbestands zum ›Wesen‹ der Kunst) verbindet.«1
Was wie eine vernünftige Erweiterung des Blickfeldes klingt, ist doch nur eine Variation des Bedeutungsmissverständnisses. Wann immer der Anspruch eines Kunstwerks als Ausdruck für etwas anderes gedeutet wird, ist das erlebte Kunstwerk schon verschwunden. Wenn Autonomie unter gesellschaftlichen Bedingungen ›verstanden‹ wird, wird sie im emphatischen Sinne gar nicht mehr verstanden, sondern in einen ähnlichen Verschleierungsdiskurs verwickelt, wie ihn die Frage nach der Funktion von Kunstwerken entspinnt. Empirische Bedingungen von Autonomieansprüchen sind undenkbar.
Wann immer der Anspruch eines Kunstwerks als Ausdruck für etwas anderes gedeutet wird, ist das erlebte Kunstwerk schon verschwunden.
Was beschreibbar ist, sind historische Bedingungen unter denen das empirische Auftreten dieser Ansprüche als formulierte Postulate verständlich werden, aber daraus Bedingungen der Autonomie abzuleiten, führt in unauflösbare Selbstwidersprüche.
Unter derselben Perspektive lässt sich im Übrigen verstehen, warum heute der unbedingte Anspruch der Autonomie aus Angst vor dem Totalitarismus unter Ideologieverdacht steht. Wer beharrlich auf die unbedingte Autonomie im Erleben des Kunstwerkes besteht, der gilt leicht als weltfremd und ideologisch verbohrt. Dennoch wird hier behauptet, dass Weltfremdheit in diesem Sinne kein Makel, sondern die eigentliche Qualität künstlerischen Handelns ist.
Dabei ist die Kunst kein Himmelfahrtskommando; sie bleibt bezogen auf die Welt in der sie erscheint, und zwar aufgrund ihres Doppelcharakters in der Form von aporetischen Widersprüchen. Entweder sie zeigt sich Anschlussfähig im Betrieb der Gesellschaft und gefährdet damit die in ihr geforderte Autonomie oder sie nimmt
auf den Betrieb der Gesellschaft keinerlei Bezug und gefährdet damit ihre eigene Wahrnehmbarkeit. Man darf bei diesen Konstellationen keine Auflösung der Widersprüche verlangen. Der Widerspruch ist das Medium in dem wir untereinander im Gespräch sind. Er ist wie das Missverstehen als gegeben anzunehmen und unausweichlich. Künstlerische Tätigkeit bezieht sich immer auf den bestehenden Kontext des Lebens und oft kann diese Tätigkeit als Kunst nur erscheinen, weil der Betrieb der Gesellschaft eben mit diesen oder jenen Beschränkungen verbunden ist. Aber durch den autonomen Charakter der Erfahrung eines Kunstwerks öffnet sich eine Leerstelle, in der sich das erfahrenden Individuum frei bewegen kann.
Man darf bei diesen Konstellationen keine Auflösung der Widersprüche verlangen. Der Widerspruch ist das Medium in dem wir untereinander im Gespräch sind.
Erst in dieser unmittelbaren Wechselbeziehung von autonomem Kunstwerk und autonomem Betrachter wird das Kunstwerk erfahrbare Wirklichkeit. Ohne diese Beziehung gibt es nur Dinge. Für die Tätigkeit der Künstler spielt dabei die Frage der Rezeption im Grunde keinerlei Rolle. Denn: »Everything that one has ever created achieves reality.«2
Kunst ist also in ihrer konkreten gelungenen Äußerung nicht nur autonom, d. h. je eigengesetzlich und durch keine äußere Bedingung begründbar, sondern auch automobil in dem Sinne, dass die Bewegungen, die von ihr ausgehen, weder vom Künstler, noch vom Betrieb der gesellschaftlichen Institutionen, noch vom Publikum hervorgebracht oder bestimmt werden können.
1 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Suhrkamp, 1974, S. 63.
2 Halldór Laxness: Independent People. Harvill, 2001, S. 405.