Martin Buber
Was wir aus der uns umgebenden Atmosphäre im Einatmen aufnehmen, durchdringt unseren Organismus, belebt und ernährt uns.
Was wir im Ausatmen unserer Umgebung zur Verfügung stellen, hat für diese denselben Zweck.
Wir befinden uns in unmittelbarer Beziehung mit unserer Umgebung, oftmals ohne uns dessen bewusst zu sein. Was unsere Atemluft betrifft, stehen wir in unmittelbarer Beziehung zu den uns umgebenden Pflanzen. Aber auch was all die anderen Dinge, die wir in uns aufnehmen, betrifft, befinden wir uns in Beziehung: mit Menschen, die unsere Nahrungsmittel anbauen und verarbeiten, die unseren Wohnraum gebaut und erhalten haben, die Energie, Transport, Verwaltung besorgen, die in Wirtschaft und Politik Entscheidungen treffen, mit Menschen die bewahren und vernichten, die fördern und zerstören, mitfühlen und verachten und so auf ihre eigene Weise die Beziehungsgestalt der Gegenseitigkeit mitbestimmen.
Wir atmen Gegenseitigkeit.
Atmen – die Kunst – im Denken der leerstelle – diese unmittelbare Beziehungsgestalt der Gegenseitigkeit zu begreifen, zu erkennen das dabei das Ich nicht Maßstab seiner Beziehungen sein kann, obwohl es gewissermaßen als archimedischer Punkt des Denkens erscheint: cogito.
Gegenseitigkeit heißt, wir stehen untereinander im Widerspruch, sprechen uns an, antworten, konstruieren das ganze Gespräch im Zwischenraum. Und auf dieses Gespräch in der Leerstelle zwischen den Menschen und Dingen und Ideen kommt alles an. Denn die Gestaltung dieser Beziehungen und das Begreifen dieser Gegenseitigkeit, die sich uns im Denken zeigt, ist ausschlaggebend für Gerechtigkeit und Frieden.
So ist es kein Zufall, dass sich in Hölderlins Friedensfeier1 die wunderbare Verse finden, die zugleich über dieses Denken hinausweisen:
Der Gesang weist als lyrischer Ausdruck in der Sprache über die Sprache hinaus, er ist Kunst. Dass wir aber nicht nur Gesänge haben, sondern selbst dieser Gesang sind, verweist auf eine Lebensform, der wir uns nur durch Hingabe nähern. Johann Gottlieb Fichte formulierte das einmal so: „Die Einsicht macht sich selbst, und nur insofern ist sie richtig. Was sich nicht selbst macht, was irgend ein Ich hindenkt, ist falsch. Also, was diesem Ich zukommt? Durchaus leidend sich hinzugeben an dieses sich selbst durch sich machende Bild, die Evidenz. In diesem Hingeben liegt’s; thätig sollen wir gar Nichts thun.«2 Auch dies lässt sich atmend erfahren, denn nicht die ausgedachte und strategische Planung des Ein- und Ausatmens, sondern die Hingabe an den aus sich selbst bestimmten Rhythmus des Atems hält uns lebendig.
In all unseren Lebensvollzügen, bis hinein in die subtilsten Varianten philosophischer Spekulationen stehen wir in gegenseitiger Abhängigkeit mit allem Anderen. Und Friedrich Hölderlin erinnert uns gewissermaßen an die formale Antithese zu Ad Reinhards Identitätsbehauptung: Wir atmen Gegenseitigkeit.
Begreifen wir, dass alles was wir von uns geben, die Lebensgrundlage für andere ist, kann man sagen: Denken und Fürsorge für andere sind eins.
1 Friedrich Hölderlin: Werke und Briefe, Frankfurt, 1982, Band I, S.166.
2 Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre (1812). SW X, S. 320f.
Unterhaltung III
B: Wie würden Sie »KAPITALISMUS« erklären?
A: Atmen Sie mehr als die Anderen.
B: Wie würden Sie »KUNST« erklären?
A: Atmen jenseits aller Vergleiche.
B: Wie würden Sie »ATMEN« erklären?
A: (Hält den Atem an und stirbt.)
Aus: robert lax channeled / robert lax mitgeteilt, leerstelle.org, 2011.