Wer angesichts der Kunst nicht verwirrt zwischen allem Anderen niedersinkt, sondern im Widerhall seiner jenseits von Theorie und Moral tätigen Urteilskraft ein »ästhetisches Echo«1 vernimmt, was tut der eigentlich? Er bejaht die Kunst als Paradox am Begriff des Befehls, der grundlos und ohne Rücksicht auf allen guten oder schlechten Geschmack Zustimmung fordert. Im Erleben eines Kunstwerkes geht es um die Erfahrung einer Allgemeingültigkeit, die dem apathischen Abhängen in der Beliebigkeit geschmacksorientierter chill out zones widerspricht. Was im ästhetischen Urteil als Kunstwerk erlebt wird, ist dadurch zunächst grundlegend von allen anderen Lebensvollzügen unterschieden. Dies gilt für den Künstler ebenso wie für den Betrachter. Der Anspruch, das Angesprochensein, erreicht uns als unbedingter Befehl – wie bei Rilke: »Du musst dein Leben ändern.«2
Dieser Imperativ trifft uns jenseits aller Interessen, die wir im übrigen Leben an unseren eigenen Handlungsvollzügen nehmen müssen. Er erscheint in der Freiheit einer möglichen Urteilsenthaltung oder ästhetischen Distanz, die nach Sinn, nach Wahrheit oder Geschmack nicht fragt. Er erscheint paradox. Denn die übliche Rede von Befehl ist Befehl! gilt hier nicht. Befehlsgehorsam oder Befehlsverweigerung treten in diesem Erleben nicht auf, weil im Erleben des Kunstwerks gilt: Befehl ist Befehl, nur dann, wenn der Einzelne ihm unmittelbar zustimmen kann. Das ›tote Ding‹ fragt gleichsam beim Einzelnen an, ob dieser es im Modus der Urteilsenthaltung in ein ›lebendiges Werk‹ verwandelt. Und wenn ja, dann, und erst dann, wirft das Werk das ästhetische Echo als imperatives ›Du musst!‹ zurück. Erst im Moment der im Einzelnen erlebten Zustimmung fordert der Kunstbefehl die über den Einzelnen hinausweisende Geltung der im Kunstwerk zur Anschauung gebrachten Haltung.
Das ›tote Ding‹ fragt gleichsam beim Einzelnen an, ob dieser es im Modus der Urteilsenthaltung in ein ›lebendiges Werk‹ verwandelt. Und wenn ja, dann, und erst dann, wirft das Werk das ästhetische Echo als imperatives ›Du musst!‹ zurück.
Reflektiert man in der Betrachtung dieser Paradoxie nicht auf das urteilende Individuum, sondern auf das beurteilte Ding, dann zeigt sich der von Adorno prägnant beschriebene »Doppelcharakter« 3 von Kunstwerken: »Vermöge ihrer Absage an die Empirie – und die ist in ihrem Begriff, kein bloßes escape, ist ein ihr immanentes Gesetz – sanktioniert sie deren Vormacht« 4, denn »wesentlich an der Kunst ist, was an ihr nicht der Fall ist, inkommensurabel dem empirischen Maß aller Dinge«5. Und obwohl es den
Kunstwerken wesentlich ist »Dinge zu sein, so ist es ihnen nicht minder wesentlich, die eigene Dinglichkeit zu negieren«6.
Erschöpften sich Kunstwerke in ihrem empirischen Gehalt, blieben sie lediglich auditive Muster, retinales Vergnügen. Wären sie nur subjektive Regung oder Empfindung, kollabierten sie im Geschmack.
Aber Kunst ist für die Reflexion ein unausweichliches Paradox am Begriff des Befehls, weshalb in ästhetischen Theorien allenthalben antinomische Strukturen erscheinen, wie sie auch von Adorno in unzähligen Variationen durchgespielt worden sind: »Das Allgemeine ist das Skandalon der Kunst: indem sie wird, was sie ist, kann sie nicht sein, was sie werden will. Der Individuation, ihrem eigenen Gesetz, ist die Grenze durchs Allgemeine gesetzt. Kunst führt heraus und doch nicht heraus, die Welt, die sie reflektiert, bleibt, was sie ist, weil sie von der Kunst bloß reflektiert wird«7. Begrifflich scheint Kunst nur im Widerspruch fassbar und damit unmittelbar zu entgleiten.
Entscheidend ist, dass derartige begriffliche Widersprüche in der Erfahrung nicht auflösbar sind; und zwar nicht deshalb, weil die Unmittelbarkeit der Erfahrung beschränkt und begrenzt ist, sondern weil der begriffliche Widerspruch, das Paradoxon und Skandalon, unmittelbar gar nicht auftritt. Der Widerspruch ist ein Reflexionsprodukt. In allen theoretischen Diskursen über Kunst muss notwendig in concreto verschwinden, worauf sie sich beziehen: die Kunst.
Dort, wo ein Kunstwerk erlebt wird, erscheint der Befehl unausweichlich: Du musst!
1 Vgl. hierzu auch Marcel Duchamp: Die Schriften. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Serge Stauffer, Theo Ruff Edition, 1994, S. 216.
2 Rainer Maria Rilke: Archäischer Torso Apollos. In: Neue Gedichte. Suhrkamp, 1980, S. 83.
3 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Suhrkamp, 1973, S. 15, S. 111, S. 208, S. 337, S. 374ff und S. 479.
4 ebenda, S. 10.
5 ebenda, S. 499.
6 ebenda, S. 262.
7 ebenda, S. 521.