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Kunst ist ohne jeden Fortschritt

Der allgemeine Fortschrittsglaube, als Motor einer auf Wachstum und Zerstörung getrimmten Ökonomie des Alltagslebens, hat sich inzwischen wie eine mentale Industrialisierung in den Köpfen der Menschen eingebrannt und was noch schlimmer ist, er hat auch vor den Köpfen der Künstler nicht halt gemacht. Erst in allerjüngster Zeit gilt das Gütesiegel der ›Avantgarde‹ auch als verdächtig, weil es inzwischen vielleicht doch etwas abgehangen und nicht genügend fortschrittlich klingt. Dabei bleibt die innere Logik erhalten. Unter dem Diktat der Fortschrittserwartung wird Autonomie mit Andersmachen verwechselt und in einer Evolutionstheorie künstlerischen Fortschritts versenkt.

Das Bewegungsmuster und die Konstruktion der jeweiligen Avantgarde besteht darin, zunächst das Gegebene und Akzeptierte festzustellen, um eben diese Feststellung zu destabilisieren, zu überwinden, als (alt) hergebracht zu entlarven und gegen den Widerstand des Etablierten etwas Neues bzw. Anderes durchzusetzen. Der Widerstand des Etablierten ist das Lebenselixier der Avantgarde. Jeder David braucht einen Goliath, um als David in Erscheinung zu treten. Dem einzelnen Künstler wird nach erfolgreicher Etablierung des Neuen im Label der ›Avantgarde‹ retrospektive Anerkennung zugesprochen. Und in diesem Zuge wird die Geschichte der Kunst weiter als Fortschrittsgeschichte erzählt.

Die Avantgarde erscheint darin jeweilige Spitze einer linearen geschichtlichen Entwicklung, deren Logik – angereichert mit einem Schuss Darwinismus – anzeigt, wo ästhetisch-wertmäßig vorne ist.

Diese Logik ermöglicht das Althergebrachte vom Neuen zu unterscheiden und führt im nächsten Schritt gelegentlich zu einer Art von Kritik, die künstlerische Tätigkeit durch das Hersagen von historischen Vorgängern zu kompromittieren versucht, indem sie ihr vorwirft: Das kennen wir ja schon vom Oberhuber!

Aber: »Nicht weniger unbarmherzig und unkünstlerisch wie der Zwang, etwas »genau so« machen zu müssen, ist eben der, etwas unbedingt »ganz anders« machen zu sollen. […] Der Trieb, von Künstler zu Künstler, erst recht von Generation zu Generation, das Rad völlig neu erfinden zu müssen, atmet exakt jene konservative Zwanghaftigkeit, vor der zu flüchten er vorgibt.«1

Das kennen wir ja schon vom Oberhuber!

In der Ideologie vom Innovationszwang einer (erhofften) evolutorischen Weiterentwicklung wird weithin unbemerkt von einer biologischen Hypothese zu einer wertenden Hierarchiesierung übergegangen, die auf dem unübersichtlichen Feld der Kunst Ordnung schaffen soll. Dabei ist schon innerhalb der biologischen Hypothese jede Wertung fehl am Platz. Ein Zaunkönig ist kein höher entwickelter Archaeopteryx. Schimpansen sind nicht mehr wert Totenkopfäffchen. Beinahe schlimmer noch verdeckt die falsche Fortschrittsidee die je singuläre Qualität eines Kunstwerks, die durch ein anderes nicht zu erzeugen ist.

In der Kunst gibt es keinen Fortschritt; es gibt nur qualitative Unterschiede. Diese mögen sich aufeinander beziehen, ja sogar ohne bestimmte Vor-Bilder ihrer Qualität nach unmöglich sein, aber sie sind nie derart aufeinander bezogen, dass das Eine eine ästhetische Weiter- oder Höherentwicklung des Anderen ist. Die Gotik verhält sich zur Romanik nicht wie der Homo Sapiens zum Homo Habilis, und Francis Bacons Three Studies for Figures at the Basis of a Crucifixion ist keine Weiterentwicklung der Figuren unterm Kreuz in Grünewalds Isenheimer Altar. Wenn beide überhaupt aufeinander zu beziehen sind, und wenn ein Kunstwerk die Wiederholung eines anderen Kunstwerkes zu sein scheint, dann ist es eine Wiederholung im Kierkegaard´schen Sinne2, die mit einer Reproduktion auch nicht das geringste gemein hat.

Dabei wird die unmittelbare Erfahrung eines Kunstwerks immer weiter als scheinbar irrelevant aus dem Diskurs gedrängt, bis sich niemand mehr traut zu behaupten, dass es nur und einzig seine unmittelbare Erfahrung eines Dings als Kunstwerk ist, die dieses zum Kunstwerk macht. Kunst ist selten!

Innerhalb des ökonomischen Kalküls ist dies verständlicherweise wenig gefragt. Hier ist der Schockwert des Neuen geradezu notwendig, um institutionell und marktmäßig anerkannt zu werden. Dabei werden die Produktzyklen immer kürzer und die begleitenden theoretischen Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche immer vielfältiger und mit jeder neuen Neo- und Post-Wendung unübersichtlicher, bis schließlich auch das ›Ende der Avantgarde‹ fortgeschritten und neu erscheint. Dabei reagiert der Markt auf jede Infragestellung mit immer schnellerer Akzeptanz und die Kunst wird als Konsumartikel für Besserverdienende im Betriebssystem dingfest gemacht. Dabei wird die unmittelbare Erfahrung eines Kunstwerks immer weiter als scheinbar irrelevant aus dem Diskurs gedrängt, bis sich niemand mehr traut zu behaupten, dass es nur und einzig seine unmittelbare Erfahrung eines Dings als Kunstwerk ist, die dieses zum Kunstwerk macht. Kunst ist selten!

Weil die Kunst ohne jeden Fortschritt ist, braucht das Geklapper der Produktionskreisläufe für Luxusartikel nicht interessieren. Stattdessen mag die vielleicht unsichere Intuition vom Sand im Getriebe, der nicht umgehend als inszenierte Störung wieder flott gemacht wird, den Menschen Mut machen, sich auf das eigene unmittelbare Erleben von Kunst zu verlassen, und wo dieses ausbleibt die Gegenwart in den Leerstellen als wertvollen Freiraum auszuhalten.

Auch dabei, wie in der Kunst prinzipiell, kann von Fortschritt nicht die Rede sein.

 

 

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1 Wolfgang Rihm, Zitiert nach einem Konzertprogramm von Ralph Phillip Ziegler, ohne Jahr.

2 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie. Übersetzt von Emanuel Hirsch, Dietrichs, 1955.