FERIAE MORIBUS ULTRA THEORIAM ARS

Kunst ist jenseits der Theorie ein Urlaub vom Sittengesetz

Weil der Künstler nicht arbeitet und aus der Profession seines Atmens nichts folgt, sind Erkenntnisinteressen und moralische Imperative aus der künstlerischen Tätigkeit ausgeschlossen.

Auch wenn es für manchen verlockend erscheint, sich als Künstler endlich nützlich zu machen, indem er Wissen schafft oder Gutes tut, er wird von Objekt zu Objekt am Anspruch und Wert der Kunst vorbei Handlungen vollziehen, die obwohl sie interessant oder hilfreich sind, geräuschlos im Getriebe von theoretischer und praktischer Vernunft mitlaufen. Und weil die Ansprüche dieser Vernunftaspekte heute zum Teil sogar in den Wissenschaften selbst nicht mehr gewagt werden, ist die interdisziplinäre Verlockung, im Fluss der perspektivischen Konstruktionen von Erkenntnistheorie und Ethik von Paradigmenwechsel zu Paradigmenwechsel zu paddeln und sich bei Ermüdung an den Stränden transversaler Vernunftinseln zu sonnen, besonders groß: anything goes. Man kann die scientific community extern bereichern oder sich auf den Oberflächen der Popkultur treiben lassen und als Geschmacksverstärker ästhetischen Genuss verbreiten oder wem das nicht genügt, der stürzt sich mit Engagement ins Soziale, bis sogar die alltäglichsten Handlungen aus Plastik sind. An all dem läuft die Kunst mit ihren Ansprüchen und Verbindlichkeiten vorbei; sie ist jenseits von Wissenschaft und ethischem Engagement. Weder produziert sie Erkenntnisse, noch befördert sie das moralische Handeln. Sie illustriert nicht Zeitgeist und Geschichte, ist nicht die Innovationsfabrik morgiger Möglichkeiten und auch nicht die gesellschaftlich legitimierte Spielwiese für ein paar Irre, die uns in der Freizeit durch die Illusion ihrer Freiheit unterhalten.

Zugegeben: All das sind mögliche Deutungen künstlerischer Tätigkeit. Aber sie sagen ebenso wenig über die Kunst, wie die mögliche Deutung einer Zeichnung da Vincis als Anzündhilfe fürs Kaminfeuer etwas über den ästhetischen Wert der Zeichnung verrät.

Künstlerische Tätigkeit und ästhetische Wertschätzung entspringen einem Anspruch, der keine Deutung ist, obwohl er, wie alles andere auch, deutbar ist. Die Ansprüche der Kunst artikulieren sich jenseits der semantischen Schusterwerkstatt. Am Kunstwerk, und nur am Kunstwerk, können wir es uns erlauben, von allen Deutungen abzusehen. Das Kunstwerk steht nicht für etwas, was erst noch kommen wird oder hervorgebracht werden muss. Die exegetischen Untertitel von »das und das bedeutet hier jenes und ist so zu verstehen und dazu da, um folgendes zu erreichen und zu bewerkstelligen, dass …« verlieren angesichts der Erfahrung eines Kunstwerks ihre Relevanz. Etwas als Zeichen für etwas Anderes zu sehen, findet hier sein Ende. Nein, es tritt gar nicht auf.

Die Erfahrung des konkreten Kunstwerks bedeutet gar nichts; sie ist mein Zurückgeworfensein auf mich selbst »und mehr bedarfs nicht«.1

Trotzdem scheint die Hoffnung zuletzt zu sterben, »dass wir einmal alles – all die Mysterien der Kunst – durch psychologische Experimente verstehen werden, wenn wir etwas weiter fortgeschritten sind. So ausgesprochen dumm die Vorstellung auch ist, das ist es ungefähr, was die Leute glauben. Ästhetische Fragen haben nichts mit psychologischen Experimenten zu tun, sondern werden auf ganz andere Weise beantwortet. […]  Gesetzt den Fall, man würde herausfinden, dass alle unsere Urteile von unserem Gehirn ausgehen. Wir entdeckten bestimmte Arten von Mechanismen im Gehirn, formulierten allgemeine Gesetze etc. Einer könnte zeigen, dass diese Notensequenz diese bestimmte Reaktion erzeugt; sie bringt einen Menschen dazu zu lächeln und ›Oh, wie wundervoll‹ zu sagen. […] Denke dir, das wäre geschehen, es könnte uns in die Lage versetzen, vorherzusagen, was einer bestimmten Person gefallen und was ihr nicht gefallen wird. Wir könnten das ausrechnen. Die Frage ist, ob es diese Art von Erklärung ist, die wir gerne hätten.«2

Natürlich nicht, denn die Erklärungen in der Kunst haben mit wissenschaftlichen Erklärungen ebenso wenig gemein, wie die Kunst mit der Wissenschaft. Alle Versuche der Dekodierung laufen Gefahr, als hermeneutisch wiehernde Trojaner, mittels hölzerner Begrifflichkeiten, den individuellen Wertvollzug erfolgreich zu verhindern.

Kunst ist weder durch wissenschaftliche Exegesen erklärbar, noch ist sie die letzte Bastion der Welterklärung, wenn uns wissenschaftlich die Luft ausgeht. Letzteres ist deshalb so verführerisch, weil der Künstler ja atmet, anstatt zu arbeiten.

Aber könnte die Kunst dann nicht wenigstens das Leben, die Welt verbessern? Sind nicht Kunst und Leben, Ethik und Ästhetik Eins?3 Ist die Kunst nicht eben das Mittel, das dem Leiden der Welt entgegenzuwirken hat, anstatt sich in einem weltabgewandten L’árt pour L’árt eines hypostasierten Selbstzwecks zu verlieren? Kann die Kunst nicht wenigstens noch ein »Symbol der Sittlichkeit«4 sein? Nein! – Denn wird künstlerische Tätigkeit als Appellation zur Sittlichkeit oder therapeutisch-pädagogisches Mittel einer Emanzipationsbewegung angesehen und gedeutet, dann subsumiert man diese unter ein Prinzip, das den Spielraum der künstlerischen Tätigkeit zunichte macht.5  Wer sich von Kunst etwas Gutes erwartet, der stellt sie in den Dienst der Moral. Dagegen verspricht die hier vorgebrachte These eine Dienstbefreiung: Urlaub vom Sittengesetz.

In seinen Überlegungen zu Aesthetica und Anaesthetica beschreibt Odo Marquard, dass diese Autonomieforderung in der philosophischen Reflexion und im allgemeinen Bewusstsein just in dem historischen Moment überdeutlich hervortritt, in dem die Gnade der Erlösung durch die zunehmende Diskreditierung der Religion aus dem Bewusstsein verschwindet. Die ästhetische Autonomieforderung erscheint dann als kompensatorischer Umschlag und Ausbruch aus einer übertribunalisierten Welt in der sich jeder gnadenlos selbst zu rechtfertigen habe.

»So muß – in der übertribunalisierten Welt – jedermann gnadenlos die Entschuldigung dafür leben, dass es ihn gibt, wie es ihn gibt, und nicht vielmehr anders. Diese Übertribunalisierung ist der spezifisch moderne Aggregat- zustand der eschatologischen Weltnegation.«6

Um dem unerträglichen Rechtfertigungsdruck zu entgehen, der implizit verlangt, sich ständig total zur Disposition zu stellen, erscheint die autonome Kunst als »ein Kompensat der verlorenen Gnade. Als Urlaub vom Tribunal wird die Kunst ästhetisch und unwiderstehlich und überwichtig und das autonome Kunstwerk vielleicht am meisten das, vor dem die Frage ›Mit welchem Recht …?‹ verstummt: als Ausbruch in die Unbelangbarkeit.«7

Man sieht, wie selbst die Dienstbefreiung, wiederum in den Dienst der selbstverschuldeten Unmündigkeit gestellt werden kann, wenn man die Kunst als Surrogat der verlorenen Gnade und Kompensat der selbstentzogenen Religion missdeutet.

Aber: Jenseits der Theorie ist die Kunst und ein Urlaub vom Sittengesetz. Obwohl – und das sei noch betont – das Handeln der Künstler moralisch verpflichtet bleibt, was spätestens dann allgemein erkannt wird, wenn die Tate anlässlich der Verleihung des Turner Preises 2014 vom Künstler mit Senfgas bedampft wird.

Nicht alles, was ein Künstler tut, ist ein Werk, nicht jedes Werk ist ein Kunstwerk. Künstlerische Tätigkeit vollzieht sich jenseits aller möglichen Zweckbestimmungen, sie ist allen externen Funktionalisierungen gegenüber indifferent. Dennoch zeigt sich an ihr ein Anspruch, der, obwohl nicht objektiv begründbar, Allgemeingültigkeit fordert. Und eben dieser Anspruch greift dann auch aus und hinein in die Erfahrungswelt des Einzelnen.8 Ad Reinhardt hat sich das so gedacht: »ART IS ART. EVERYTHING ELSE IS EVERY- THING ELSE.«9

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1 So verweist Friedrich Hölderlin im letzten Vers An die Parzen auf diesen Moment (Werke und Briefe in zwei Bänden. Insel, 1982, S. 37).

2 Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Zusammengestellt und herausgegeben aus Notizen von Yorick Smythies, Rush Rhees, und James Taylor von Cyril Barrett. Fischer, 2000, S. 32ff.

3 Nur am Rande und der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Wittgensteins These »Ethik und Ästhetik sind Eins.« (Tractatus Logico Pilosophicus, 6.421) zur Begründung solcher identitätssystematischer Reduktionen nicht herhalten kann. Ihm war klar: »Die Identität der Bedeutung zweier Ausdrücke läßt sich nicht behaupten. Denn, um etwas von ihrer Bedeutung behaupten zu können, muß ich ihre Bedeutung kennen« (ebenda 6.2322). Wittgenstein vertritt im Tractatus lediglich die Auffassung, dass man sowohl über Kunst wie über Ethik nicht sinnvoll sprechen kann.

4 Vgl. hierzu auch Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, §59. Meiner, 2003, S. 253ff.

5 Dieser Spielraum, der sich uns angesichts der Kunst eröffnet, wurde von Gadamer sehr treffend beschrieben, wenn er schreibt: »Spiel ist also letzten Endes Selbstdarstellung der Spielbewegung« (Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen. Reclam, 2000, S. 31). Eben das ist die Kunst: die Selbstdarstellung der Eigenbewegung des empor stoßenden Aases.

6 Odo Marquard: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Wilhelm Fink, 2003, S. 119.

7 ebenda, S. 120.

8 Von Gottfried Benn existiert unter dem Titel Soll die Dichtung das Leben bessern? ein sehr lohnenswerter Vortrag zu den Implikationen dieser These.

9 Ad Reinhardt: Art as Art – The Selected Writings of Ad Reinhardt. Herausgegeben von Barbara Rose, University of California Press, 1975, S. 51.